Augst und Friedmann
Augst und Friedmann wandern
Immer wieder im November, wenn es nass, kalt und neblig wird und sich die intensiv genutzte Landschaft im dämmrigen Licht entleert, trafen sich Oliver Augst und Reto Friedmann irgendwo zwischen Zürich und Frankfurt und wanderten einige Tage von Dorf zu Dorf, von Gasthof zu Gasthof. Unterwegs durch die winterliche Landschaft blieb viel Zeit für Gespräche über Spuren und Zeichen in der Landschaft und wie die beiden Wanderer die Welt wahrnehmen und wie diese auch noch anders gedacht werden könnte.
Begriffe auf Wegweisern, Schildern und Landkarten erzählten von dem Dachs, der hier seinen Bau hatte, von dem weissen Haus, das im dicht bebauten Vorstadtquartier nicht mehr auszumachen ist und von dem Feld für Futtermais, dessen Flurname eigentlich einen Gemüsegarten vermuten liesse. Ein Gedenkstein bezeichnete die Gefallenen als Helden und das Schild am Ortsausgang dankte für den Besuch und wünschte eine gute Fahrt.
Augst und Friedmann wanderten weiter. Die Dienstleistungszone am Ortsrand war auf der Karte noch nicht eingetragen. Die Erschliessung wandte sich an Logistikunternehmen. Aus der Perspektive der Wanderer wirft der Ort Fragen auf. Welche Dinge werden hier hin und her verschoben? Für wen sind sie gedacht? Werden sie benötigt? Gibt es hier so etwas wie Schönheit? Was sagt diese Dienstleistungsästhetik über unsere Kultur aus? Oder mit dem Soziologen Lucius Burkhardt gefragt: "Warum ist Landschaft schön?"
Augst und Friedmann worten
Eine der Wanderungen führte Augst und Friedmann durch den Spessart. In der weitläufigen und etwas gleichförmigen Waldlandschaft war es offenbar auch für die Forstangestellten schwierig, sich darin zu orientieren. So benannten sie Waldabschnitte mit Wörtern, wie etwa "Moosklinge", "Strutt" oder "Braut und Bräutigam", und brachten die entsprechenden Schilder an den Wegrändern an. Oliver Augst trug bei jeder Wanderung durch den Spessart die Bezeichnungen der Waldabschnitte in der chronologischen Reihenfolge in ein Büchlein ein. So entstand für jede Wanderung ein kleiner lyrischer Text.
Zur gleichen Zeit befasste sich Reto Friedmann mit dem Erfinden von Wörtern. Diese Wörter sind nirgends festgemacht, an keinem Baum, auf keiner Karte und in keinem Wörterbuch. Es sind die Wörter, die dann fehlen, wenn die Antwort auf ein 'wie war es denn beim Wandern?' in einem 'schön' oder gar 'sehr schön' gipfelt. Hilflos fügen wir dann die schöne Aussicht über die Rheinebene an und erzählen vom milden Wetter, das sich am Nachmittag aber leider etwas zuzog. Das Wandern selbst gelangt kaum zu einer Begrifflichkeit und wird demzufolge selten mitgeteilt. Dabei beschäftigt uns das Gelände 'obabdadort', 'handquerum' oder 'saumsam', wir peilen mit Hilfe der Landkarte einen bezeichneten Punkt an 'alsobzumworteindort' oder wären vielleicht lieber woanders gewesen 'zudirlieberwieder'.
So lag es nahe, gefundene und erfundene Wörter für eine erste gemeinsame Produktion zueinander in Beziehung zu setzen. Daraus entstand die Sprachperformance "Worten".
In dieser ersten Produktion waren die Themen für die weitere Zusammenarbeit von Augst und Friedmann bereits angelegt, nämlich der fragende Blick auf die Welt und die Suche nach einer Sprache dazu.
Augst und Friedmann wandern, sprechen und singen
In den Figuren der Bänkelsänger und Wanderprediger fanden Augst und Friedmann historische Vorbilder für die Entwicklung einer Sprach- und Musikperformance. Sie verbinden darin das Wandern mit dem Reflektieren gesellschaftlicher und politischer Realitäten. Im Unterschied zu Straßenmusiker*innen nehmen sie jedoch kein Geld an, und im Gegensatz zu Sektenprediger*innen verkünden sie keine klare Botschaft. Ganz im Gegenteil: Ihre Performances als Bänkelsänger und Wanderprediger erzeugen Spannungen, Widersprüche und Brüche.
Auslöser zur Entwicklung dieses Formats war eine Neuinterpretation von Brecht/Weills Oper"Die sieben Todsünden". Mit der Frage ohne Fragezeichen «Was werd' ich Armer dann sagen» gehen die beiden Künstler als Brechts Anna I und Anna II für sieben Jahre auf Wanderpredigt. Sie reisen durch sieben Städte von Frankfurt bis Luzern und treffen dort auf Faulheit, Stolz, Zorn, Völlerei, Gier und Neid. Tanzend, singend und streitend treten sie in Fußgängerzonen auf und halten den bissigen Kommentaren ihrer Mitmenschen stand.
Eine weitere Produktion als Bänkelsänger und Wanderprediger mit dem Titel "Ich habe niemanden gefragt" beschäftigte sich mit dem Vorabend des Bauernkrieges.
Für Augst und Friedmann stellte sich die Frage, ob mit dem Aufstand der ländlichen Bevölkerung vor 500 Jahren und ihrer Forderung nach Gleichheit ein weiter Bogen über Aufklärung, Französische Revolution und Moderne bis heute geschlagen werden kann, der nun womöglich an sein ungewisses Ende zu kommen scheint? Auf jeden Fall beobachten Augst und Friedmann, dass eine Epoche sich ihrem Ende zu nähern scheint und die neue noch nicht erkennbar ist. Manche schauen an der Schwelle eines Übergangs den Veränderungen mit Bangen entgegen. Das war wohl vor 500 Jahren beim Übergang zur Neuzeit mit der Reformation und dem Bauernkrieg so, und wird mit der Akkumulierung existenzieller Bedrohungen und Protesten von Augst und Friedmann auch heute wieder beobachtet.
Wissenschaftlich begleitet wurde die Produktion von Dr. Hartmut Kühne, Regula Zweifel und Alexia Zeller.
Augst und Friedmann steigen nicht aus
Eine Persönlichkeit, die Augst und Friedmann in den Gesprächen unterwegs durch die Landschaft immer wieder begegnete, war der amerikanische Naturphilosoph, Poet und Schriftsteller Henry David Thoreau. Als Prototyp des Aussteigers und Begründer der literarischen Gattung des "Nature Writing" fühlten sich Augst und Friedmann diesem Pionier sehr nahe. Auch die Auseinandersetzung mit sozialpolitischen Themen war in seiner Person ebenfalls schon angelegt. Aus Protest gegen ein neues Gesetz in den Nordstaaten zur Begünstigung der Sklaverei, schrieb er den Essay "Über den Ungehorsam gegenüber dem Staat" und zog sich aus Protest in eine Waldhütte zurück.
Selbst von der 68er und 80er-Generationen geprägt, fragten sich Augst und Friedmann, ob man heute überhaupt noch aus Protest aus der Gesellschaft aussteigen könne. In Zusammenarbeit mit Annette Schmucki entwickelten Augst und Friedmann zu Thoreaus Tagebüchern die Sprach- und Musikperformance "Festspiele im Walde". Darin verdichteten sie Thoreaus Wertschätzung des Alltäglichen und dessen ökonomische Selbstbeschränkung als künstlerisches und politisches Statement.
Augst und Friedmann suchen nach einer Sprache für Utopien
So wie Augst und Friedmann die Welt als einsame Wanderer von aussen betrachteten und Thoreau sich schreibend in die Abgeschiedenheit der Waldhütte zurückzog, entwickelte Gustav Landauer als Philosoph und Revolutionär der Münchner Räterepublik eine anarchistische Theorie, in der die kontemplative Abgeschiedenheit des Mystikers Meister Eckhart eine zentrale Rolle spielte. Für eine neue Sicht auf die Welt sollte man also nicht durch die Landschaft wandern oder im Wald leben, sondern sich in die eigene Innerlichkeit absondern. Und auch bei ihm ging es darum, eine eigene Sprache zu finden. In Anlehnung an Mauthners Sprachkritik sollte nach Landauer die starre Begrifflichkeit der Sprache zerstört werden, um mit Musik, Lyrik und Literatur eine neue Sprache für eine basisdemokratische, pluralistische Gesellschaftsutopie zu entwickeln.
In der Produktion "Die Trommel passt sich zornig an" zu Gustav Landauers Wirken traten Augst und Friedmann ausnahmsweise nicht selber auf, sondern entwickelten ein Bühnenstück für den Sprecher Jaap Achterberg und den Trommler Jörg Fischer. Wissenschaftlich begleitet wurde es von Dr. Siegbert Wolf.
Bei Gustav Landauer kam zur Absonderung und der Entwicklung einer neuen Sprachlichkeit, mit der Mystik von Meister Eckhart ein theologischer Aspekt hinzu. Dieser Ansatz der Kritik am Materialismus kam bei Augst und Friedmann in unterschiedlicher Weise immer wieder zum Vorschein, so etwa auch bei der Auseinandersetzung mit Hugo Ball.
Hugo Ball zweifelte und verzweifelte an der Welt, wie er sie vorfand. Eine Hochkultur, die zum Schrecken des Ersten Weltkriegs fähig war, war für ihn nicht mehr glaubwürdig. Aus Protest zertrümmerte er die Semantik der Sprache und schuf daraus eine dadaistische Lautpoesie. Als Anarchist und Katholik forderte er eine moralische Revolution als Grundlage für eine basisdemokratisch organisierte Gesellschaft im Sinne von Leo Tolstoi und Michael Bakunin.
Augst und Friedmann erkunden das Paradies
Mit der Klanginstallation "Wenn alle Menschen" knüpfen Augst und Friedmann an die Performance zum Vorabend des Bauernkrieges an und stellen zur heutigen prekärengesellschaftlichen und politischen Situation die Frage: Wie stellen sie sich das Paradies vor? Orte wie das Ernst Bloch-Zentrum (Das Prinzip Hoffnung) und das Kloster Eberbach (die aufständischen Bauern tranken dort das damals grösste Weinfass Deutschlands leer) kontextualisieren die Sprach- und Musikkomposition.
Die gesprochenen und gesungenen Texte der Produktion werden als Lyrik-Band im Gutleut Verlag erscheinen.